Die "Gratwanderung" von Hubertus von der Goltz ist 1985 entstanden. Die drei Figuren, aus denen das Kunstwerk besteht-
haben eine Größe von jeweils 190 cm. Sie sind aus einer
Aluminiumplatte gefertigt und mit Eisenhaltern auf dem
Sennestadthaus befestigt. Da der Grundwerkstoff eine
Aluminiumplatte ist, besitzen sie kein Volumen, sondern sind
flächig. Aus großer räumlicher Distanz erscheinen die Figuren in
ihrer Körperkontur dennoch realistisch und plastisch. Aus der Nähe
betrachtet reduzieren sie sich auf eine Silhouette. Die Figuren sind
nackt dargestellt und ihre Körper weisen breite Schultern sowie
schmale Hüften auf. Es handelt sich also um männliche Gestalten.
Einer von ihnen befindet sich in der Mitte des Daches. Dort
balanciert er über eine Aluminiumstange, die auf zwei Stützen
liegt. Der Oberkörper ist zur Seite gedreht und leicht nach hinten
gebeugt. Der eine Arm ist erhoben, der andere in "Rudergeste"
etwas tiefer. Beide Hände sind zu Fäusten geballt. Durch die
Haltung wirkt der Mann ein wenig hilflos. Außerdem entsteht durch
die geballten Fäuste der Eindruck, als müsse sich der Mann stark
anstrengen, um sein Gleichgewicht halten zu können. Die
Spannung des Körpers, die durch die Haltung und die
ausgeprägte Muskulatur zum Ausdruck kommt, unterstützt diesen
Eindruck. Der Kopf ist leicht zur Seite hin gesenkt, so dass der Blick zu
den Füßen gerichtet ist und diese kontrolliert, damit sie die Stange
nicht verfehlen.
Ein weiterer Mann befindet sich auf der linken Seite des Gebäudes.
Er balanciert auf dem Rand eines Balkons. Er steuert die selbe
Richtung an wie der andere Mann und ist gerade dabei, ein Bein
vor das andere zu setzen. Dabei hat er das hintere Bein auf den
Balkonrand aufgesetzt und das andere noch In der Luft. Beide
Beine sind leicht angewinkelt. Der Mann ist außerdem etwas nach
hinten gebeugt. Den einen Arm hält er nach oben, den anderen
leicht angewinkelt nach unten. Die Hände sind jeweils zu Fäusten
geballt und weisen zusammen mit der Haltung und der
angespannten Muskulatur auf die Anstrengung beim Halten des
Gleichgewichts hin. Der Kopf des Mannes ist gesenkt und der Blick
ist auf den noch in der Luft befindlichen Fuß gerichtet.
Der dritte Mann befindet sich auf der gegenüberliegenden Seite
des Gebäudes. Auch er balanciert auf dem Rand des Balkons. Der
Oberkörper ist leicht zur Seite gedreht und gesenkt, so dass der
Blick zu den Füßen hin verläuft. Der eine Arm ist erhoben und der
andere in "Rudergeste" etwas tiefer. Auch hier weisen die Hände, die zu Fäusten geballt sind, und die angespannte Muskulatur
sowie die Haltung auf die Anstrengung des Balancierens hin. Das hintere Bein des Mannes ist leicht angewinkelt und er tritt mit
diesem Bein nur halb auf, so, als ob er gerade dabei wäre, dieses vor das andere zu setzen. Mit dem vorderen Bein dagegen tritt er
fest auf.
Die drei Figuren sind raumgreifend und wirken dadurch sehr aktiv.
Durch die angespannte Muskulatur entstehen Höhlungen und
Wölbungen, die diese aktive Wirkung unterstützen. Bei allen drei
Figuren ergibt sich durch die Schrittstellung ein Dreieck, dass den
Figuren trotz der aktiven Wirkung Standfestigkeit verleiht. Die
Armhaltungen der rechts und in der Mitte stehenden Figuren
bilden eine Diagonale, die die aktive Wirkung der beiden Figuren
verstärkt. Bei der linken Figur bilden die Arme und das hintere Bein
eine Senkrechte. Diese vermindert die aktive Wirkung und bildet
einen Kontrast zu den anderen beiden Figuren. Alle drei Figuren
ergeben zusammen ein Dreieck und wirken dadurch auch
zusammen standfest, aber nicht so aktiv wie einzeln.
Das Rathausgebäude dient als eine Art überdimensionaler Sockel,
auf dem die Figuren ihre Balanceakte vollführen. Hubertus von der Goltz verbindet durch diese effektvolle Platzierung das spielerische
Element des artistischen Drahtseilaktes mit einer höchst
dramatischen, beunruhigenden Ausnahmesituation hoch oben
auf einem öffentlichen Gebäude.