Die Plastik "Der Minotauros" von Richard Heß steht auf dem
Reichowplatz vor dem Sennestadthaus. Sie hat die Maße
137x69x60cm und besteht aus Bronze. Die Figur entstand 1984.
Es handelt sich um einen Tierkopf. der auf einem menschlichen
Körper ruht. Die Vorderansicht ist zugleich die Hauptansicht. Der
Kopf des Minotaurus hat die 1ypische Schädelform des Stieres. Die
Hörner sind deutlich zu erkennen, während die Augen und das
Maul "nur" durch Einkerbungen angedeutet sind. Der dennoch
sehr ausdrucksvolle und durchaus menschliche Blick ist auf den
Betrachter gelenkt.
Der Hinterkopf und der Nacken sind mit Fell bedeckt, welches
durch eine nicht geglättete Oberfläche (in der Tradition des Nonfinito Rodins) veranschaulicht wird. Die Arme und die Brust des
Minotaurus sind muskulös, und der Bauch schwillt aus dem
kräftigen Körper hervor, so dass der menschliche Teil animalische
Züge erhält. Der Oberkörper wird vom Sockel, der eine geglättete
Oberfläche hat, abgeschnitten. So ist nur ein Teil des Bauches und
des rechten Unterarmes zu erkennen. Der linke Arm ist ausgerissen.
Es entsteht eine offene Wunde an der Schulter. Der Minotaurus
scheint aus dem Sockel zu wachsen.
Eine Mittelsenkrechte verläuft von der Mitte der Stirn und dem
Gesicht über den Bauch. Parallel zu ihr befindet sich eine
Senkrechte, die sich vom rechten Horn über die Innenseite des
Armes erstreckt. Die rechte Seite des Minotaurus ist gewölbt und
die linke Seite weist trotz Höhlungen ebenfalls konvexe Elemente
auf. Insgesamt überwiegen bei der Plastik in den Teilformen die
runden Formelemente, während der Oberkörper in ein Trapez
eingeschrieben ist.
Der Kopf ist kantiger gestaltet. Die spitz zulaufenden Hörner
ergeben dagegen wieder eine Kreisform.
Die Plastik weist viele Kontraste auf. und der Formenkontrast ist einer
davon. Ein weiterer Unterschied besteht zwischen dem idealistisch
geglätteten Sockel und dem Minotaurus, dessen Oberfläche
Unebenheiten aufweist wie bei der Plastik des Realismus.
Doch die kompositorischen Elemente sollen den eigentlichen
Gegensatz nur unterstützen, nämlich den, der im Minotauros
selbst besteht. Er ist halb Mensch, halb Tier. Er ist ein Wesen aus der
Mythologie und steht damit auch im Gegensatz zur heutigen Zeit.
Der Minotaurus ist ein Symbol für die tierische Seite im Menschen.
Er ist unbewusst, wild und triebhaft und strahlt Kraft und Stärke aus.
Zugleich wirkt der Minotaurus verletzlich. Er hat eine Wunde
(Schulter), und seine Oberfläche scheint, als ob sie unter der Zeit
gelitten hätte. Denn die Plastik ist teilweise unbearbeitet.
Der idealistische Sockel hält den Minotaurus fest. Das Tier ist zur Zeit
gebändigt, denn es ist bewegungsunfähig, weil der Oberkörper
und der linke Arm noch nicht entwickelt sind, aber es wächst aus
dem Sockel. Das erkennt man daran, dass alle Kompositionslinien
und der Körper wie abgeschnitten wirken und im Sockel münden.
Es ist ein Reifeprozess erkennbar. So sind die Augen des Minotaurus
noch nicht voll entwickelt: Sein Blick ist nachdenklich und in sich
gekehrt, was durch die raumabweisenden Elemente unterstützt
wird. Der Mund kann auch noch nicht geöffnet werden. Ein großer
Teil des Körpers ist noch nicht vorhanden. Der Mensch, der aus
dem Idealismus (Sockel) entsteht und durch ihn geprägt wird,
nimmt zu und das Gleichgewicht der beiden Seiten wird
aufgehoben, so dass der menschliche Teil überhand nehmen
wird. Der Minotaurus erscheint insofern fast wie ein Baby, das durch
die Erziehung der Eltern immer menschlicher und bewusster wird.
Es wird freier und selbstständiger, bis seine Eltern es loslassen, weil
es erwachsen ist.